03
Nov

Übersetzen und Dolmetschen II: Realien

Wenn fünf Russen um einen Samowar, fünf Iren in einem Pub und fünf Wiener beim Heurigen sitzen, so mögen sie wohl über dasselbe reden – Politik, Liebe, Steuern. Doch es wird nicht das gleiche Gespräch sein. Es sind der Samowar, der Pub, der Heurige, die dem Gespräch die Farbe geben, die Gesten, den Rhythmus der Unterhaltung, den Klang, alles rundum, was wir bei der Übersetzung zu beachten haben.

Realien als Identitätsträger

Realien sind Elemente des Alltags, der Geschichte, der Kultur, der Politik eines Volkes, Landes oder Ortes, die keine Entsprechung bei anderen Völkern, in anderen Ländern, an anderen Orten hat. Sie sind Identitätsträger einer nationalen und/oder ethnischen Kultur.
Damit der zielsprachliche Leser die über einen Text der Ausgangssprache verteilten Bezüge auf Realien versteht, bedarf es einer größeren oder geringeren Transformation, zumindest einer kontextuellen Erklärung.

Kontext und Konnotation

Zur Realie gehört – abgesehen von der Notwendigkeit, sie als solche zu erkennen – ein weiterer, für den Übersetzer subtilerer Bereich. Die Konnotationen, durch die Realien fest im Kontext verankert sind. Der Heurige ist mehr als eine Weinschenke, er ist samt seiner Lieder die Verkörperung der spezifischen wienerischen Leutseligkeit. Die jeweilige Konnotation wird erst durch den Kontext aktualisiert. Und wenn schon die Realien an sich dem Übersetzer Schwierigkeiten bereiten, so um so mehr noch deren Konnotationen. Bei der Realie ist die erste Hürde im Translationsprozess, das Identifizieren, leicht zu bewältigen, denn auch wenn man die Realie nicht kennt, erkennt man sie an ihrer Fremdheit sowie an der Eins-zu-Null-Entsprechung in der Zielsprache. Um eine adäquate translatorische Lösung zu finden, bedarf es allerdings einer hohen kulturellen Kompetenz.

Die Wertigkeit einer Realie

Die Entscheidung für eine Übersetzung hängt von der kontextuellen Wertigkeit einer Realie im Ausgangstext ab. Es muss abgewogen werden, ob diese Realie häufiger oder nur einmal im Ausgangstext vorkommt, ob sie für die Tonalität und/oder den Plot des Ausgangstextes von Bedeutung ist oder lediglich ein kleines Detail am Rande darstellt. Dann kann sie durch einen anderen, neutralen, meist generalisierenden Begriff wiedergegeben werden.
Nach der Bestimmung der kontextuellen Wertigkeit einer Realie gilt es, den Ausgangstext als Ganzes zu betrachten. An welche Lesergruppe wendet er sich? Kann man bei dieser Gruppe die Kenntnis dieser oder jener Realie voraussetzen? Handelt es sich um eine Pressemitteilung, einen Artikel in einer Fachzeitschrift, einen Werbetext oder eine Produktbeschreibung? Von der Antwort auf diese Fragen hängt es ab, ob man alle Realienbezeichnungen übernimmt und Fußnoten dazu macht, wie in akademischen Ausgaben üblich, oder ohne störende Fußnoten auskommen muss. Die eine Realie betreffende Entscheidung ist somit makro- oder mikrokontextuell bestimmt und hängt sowohl vom Texttyp als auch von der Zielgruppe ab.

Translatorische Lösungen

Aus den verschiedenen Klassifizierungen lassen sich folgende strategische Varianten für die Übersetzung zusammenfassen:

– Der Ausdruck wird unverändert als Zitatwort in die Zielsprache übernommen. Bei Sprachen, die keine lateinische Schrift verwenden, transkribiert der Übersetzer das Wort (wie zum Beispiel Samowar). Die diesbezüglichen Regeln fürs Deutsche sind im Duden festgelegt. Fallweise erfolgt eine phonetische, morphologische, graphemische Anpassung wie zum Beispiel bei die Pizzen, neben Pizzas und die Westminster Abbey. Realien als Hauptwörter, die aus kleinschreibenden Sprachen stammen, schreiben sich im Deutschen (wie oben) groß. Handelt es sich um Abkürzungen, werden diese, wenn die Zielsprache Deutsch ist, meist übernommen: USA, PC, UNO und nur selten wird die Abkürzung „dekodiert“ und danach zu einem Kürzel in der Zielsprache gemacht. GUS-Staaten entstand zum Beispiel aus dem russischen Kürzel SNG (Содружество Независимых Государств (СНГ)/ Sodruschestwo Nesawissimych Gossudarstw (SNG)). Andere Sprachen folgen öfter diesem Verfahren ONU statt UNO und OTAN statt NATO im Spanischen zum Beispiel. Das Französische weist diese Übertragung ebenfalls auf.
Allerdings darf man den Text nicht damit überladen, das stört die Lesbarkeit.

– Die Lehnübersetzung. Das meist zitierte Wort für diese übersetzerische Lösung ist der Wolkenkratzer, der aus Skyscraper entstanden ist. Eine Lehnübersetzung ist freilich nicht immer passend, der Samowar wäre lehnübersetzt ein Selbstkocher, niemand verstünde, was damit gemeint ist. Eine Art Untergruppe bilden Wörter, die Halblehnwörter heißen. Als Beispiel die historische Realie Drittes Reich, die im Englischen als The Third Reich festgelegt wurde und analoges gilt in anderen Sprachen.

– Die Analogiebildung, die Verwendung eines sinngemäß entsprechenden Wortes in der Zielsprache, z. B. nach der Funktion: Department of Homeland Security – Heimatschutzministerium.
Die annähernde Übersetzung durch ein lexikalisch nahes Wort, meist durch Generalisierung. Beispiel wäre z. B. Kilt als (bunt karierter) Schottenrock zu übersetzen. Wie man sieht kann dies in Kombination mit in den Text eingeflochtenen Erläuterungen erfolgen.

– Die kommentierende Übersetzung, die Verbalisierung der im Wort der Ausgangssprache enthaltenen Bedeutungen. Ein einfaches Beispiel dafür wäre die Beschreibung von Personen durch ihre Zeitungslektüre. Daraus folgt dann gleich eine politische Gruppierung. Da Zeitungstitel dem deutschsprachigen Leser meist nicht den kompletten semantischen und konnotativen Rahmen geben, würde man hier zu erklärenden Adjektiven greifen: X bezog die linksliberale New York Times, Y die konservative New York Post.

Und schließlich wird die Wahl der Strategie nicht nur von Texttyp und Zielgruppe bestimmt, sondern auch durch die Nähe oder Ferne zwischen den Kulturkreisen von Ausgangs- und Zielsprache. Dadurch, ob wir zwischen Japanisch und Deutsch oder Englisch und Deutsch übersetzen.

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