05
May

Übersetzen und Dolmetschen IV: Die Rolle der muttersprachlichen Kompetenz

Die Bedeutung der muttersprachlichen Kompetenz von Übersetzern und Dolmetschern mag zwar auf den ersten Blick nicht so offensichtlich sein wie die Rolle der fremdsprachlichen Kompetenz. Kompetenz in der Muttersprache wird oft einfach als gegeben vorausgesetzt. Defizite in dieser Hinsicht fallen in der Regel denjenigen zuletzt auf, die diese selbst aufweisen. Die Übersetzenden müssen aber ihre muttersprachliche Kompetenz ständig prüfen und wenn nötig verbessern, denn sie prägt jede Phase des Übersetzens.

Muttersprachliche Kompetenz: Sensibilisierung für den Zusammenhang zwischen Text und Kultur

Textexperten muss der Zusammenhang zwischen Kultur und Sprachverwendung bewusst sein. Denn wie die Sprache verwendet wird, ist Ausdruck der kulturspezifischen Wahrnehmung und Interpretation der Welt – eine für das Übersetzen unabdingbare Erkenntnis, die zuerst in der Muttersprache erlangt werden muss.

Bei der Analyse dieser kulturellen und sozialen Dimension von Texten sind zuerst die unterschiedlichen Sprachvarianten innerhalb der eigenen Kultur zu beachten. Dazu gehören die verschiedenen Regio- und Soziolekte, die situativen, sprachgeographischen, ideologischen Stilvarianten der Sprache und ihre Funktion in Texten. Diese Varianten der Muttersprache zu kennen, zu wissen, wo man sie recherchiert, sie auch aktiv zu beherrschen und ihre textuelle Bedeutung interpretieren zu können, muss als Voraussetzung für jede übersetzerische Beschäftigung mit den anderen Arbeitssprachen gelten.

Relevant sind auch die in der Muttersprache typischen Textsorten und deren Konventionen. Sie sollten vor dem Hintergrund des sozialen Gefüges der Gesellschaft analysiert werden. So können die Textsorten und ihre Kennzeichen die Denkweisen, Werte und Strukturen der Gesellschaft widerspiegeln. Dieses Wissen bietet einen Sprachzugang, der für professionelles Übersetzen förderlich ist.

Die Unterschiede in der Sprachverwendung innerhalb der Kultur der Muttersprache können darüber hinaus auch als Modell für Textproduktion in einer anderen Sprache gesehen werden. Man könnte zum Beispiel einen deutschen Text mit gleichem Inhalt für unterschiedliche Veröffentlichungen schreiben. Er müsste anders aufgebaut sein, anderen Textkonventionen folgen und hätte andere textuelle Merkmale. Die Textfunktion ist unterschiedlich, denn es wird für eine andere Zielgruppe und einen anderen sozialen Kontext geschrieben. Die Neuerstellung eines Textes für einen anderen Kontext kann durchaus als „intralinguale Übersetzung” betrachtet werden. Die “klassische” Übersetzung – also interlinguale Textproduktion – folgt dem gleichen Prinzip, nur dass sie dabei noch Sprachgrenzen überschreitet.

Kompetenz durch kulturübergreifende Wahrnehmung und Vertextung

Textverstehen wird erst durch das kulturelle Wissen möglich, das die Leser in den Text einbringen. Das Verständnis von Texten und Übersetzungen ist von Traditionen und Wahrnehmungsmustern der eigenen Kultur geprägt.

Das Erkennen dieser Kulturspezifika ist die erste Voraussetzung für die Fähigkeit, von der eigenen Kulturgeprägtheit zu abstrahieren. Beim Übersetzen in die Fremdsprache ist das – wenn auch nur bedingt – durch bewusste Abstraktion von der eigenen Kultur möglich. Beim Übersetzen in die Muttersprache gilt es zu erkennen, welche stillschweigenden Voraussetzungen im fremdkulturellen Text für die eigene Kultur versprachlicht werden müssen. Professionelle Übersetzung beinhaltet also die Fähigkeit, fremdkulturelle Inhalte entsprechend der muttersprachlichen Weltsicht neu zu konzipieren.

Im Prinzip geht es bei der Übersetzung also darum, kulturübergreifend zu Texten. Übersetzung erfordert eine Interpretation des Textes in Bezug auf eine andere Leserschaft in einer anderen Kultur. Dann kann die Neuformulierung in der Zielsprache aus der Perspektive der Zielkultur erfolgen. Dieser Text überschreitet dann folglich die Weltsicht des Ausgangstextes. Das Wissen um den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Sprache und der eigenen Kultur ist dafür unabdingbare Voraussetzung.

Kurz: Die muttersprachliche Kompetenz ist ein wichtiger Teil der Übersetzer-Kompetenz!

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