03
Jun

“Lesen durch Schreiben” – fil Leam um nichts?

Es ist schon eine Weile her, da saß ich im Zug von Berlin nach Leipzig und las einen Artikel, der mich in den Wochen danach immer wieder zum Überlegen und Diskutieren anregte. Er handelte vom Konzept „Lesen durch Schreiben“, das an einigen deutschen Grundschulen als Methode zum Schreibenlernen eingesetzt wird.

Die Methode „Lesen durch Schreiben“ wurde in den 1970er Jahren von dem Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen für den Grundschulunterricht entwickelt. Es handelte sich damals um eine innovative Herangehensweise an den Prozess des Lesenlernens.

Ich selbst – und höchstwahrscheinlich auch die meisten unserer Blogleser – erinnere mich interessanterweise noch relativ gut an die Zeit in der ersten Klasse. Endlich – endlich! – konnte ich mehr von diesen „Buchstaben“ lernen! Um uns schrittweise das Lesen beizubringen, lernten wir eben zuerst die einzelnen Buchstaben. Wir lernten von Mimi und Mia und dass nur das Auto „tutet“, der Mensch tut nicht lesen, sondern liest, tut nicht sprechen, sondern spricht.

„Lesen durch Schreiben“ geht in dieser Phase des Lernens den genau umgekehrten Weg. Die Schüler sollen befähigt werden, alle Wörter in ihre Lautkomponenten zu zerlegen und sie dann phonetisch aufzuschreiben. Die orthographische Korrektheit steht zu diesem Zeitpunkt nicht im Vordergrund. Die klassische Unterteilung in Phoneme, denen wiederum ein Graphem zugeordnet wird, fällt also aus.
Positiv: Kinder können sofort alles, was sie gerne sagen möchten, niederschreiben.
Negativ: In allen schriftlichen Arbeiten der Kinder wird die Orthographie zunächst vollkommen vernachlässigt.

“fil”, “ser”, “wasa”

Mit Reichens Methode lernt jedes Kind Wörter je nach persönlichem Bezugrahmen. Lesen stellt sich ganz von alleine als selbstgesteuertes, implizites Produkt ein. Im Unterricht soll auch nicht laut vorgelesen werden – Reichen spricht sich ganz vehement dagegen aus –, denn lautes Vorlesen erschwere oder verhindere Verstehen und der unbewusste Prozess der Bewusstmachung werde gestört. Zum anderen führt „die Forderung nach fehlerfreiem Vorlesen nur zu unnötigen Dauerkorrekturen, Unterbrechungen und Hemmungen, welche letztlich Lesebarrieren aufbauen.“
Reichen geht in seinem Werk sogar soweit zu sagen, dass zu viel „aufgezwungenes Buchstabentraining“, das die Kreativität des Kindes sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben einschränkt bzw. unterbindet.

Was daraus entsteht, sind Wörter wie “fil” anstatt “viel, “ser” statt “sehr” und aus Wasser wird “wasa”. Korrigiert wird das in den ersten Schuljahren nicht.

Ist aber ein solcher Lernansatz, in dem das Lernen den Kindern selbst überlassen wird wirklich langfristig erfolgreich?

Die größte Kritik ist natürlich die Vernachlässigung der Orthographie. Kinder prägen sich Wortbilder ein, die falsch sind. Reichen geht davon aus, dass das Wortgedächtnis ein rein motorisches Gedächtnis ist, welches eher die Bewegung beim Schreiben speichert und nicht das Wortbild. Kann das denn stimmen? Die meisten Leute, mit denen ich mich über diese Thematik unterhalten habe, meinen, dass Wörter erst beim Lesen als falsch oder richtig erkenne. Das heißt, weiß ich zum Beispiel nicht mehr, wie man „Adresse“ schreibt, so schreibe ich einmal „Adresse“ und einmal „Addresse“ und sehe anschließend, dass „Addresse“ falsch ist. Weil das Wort so in meinem Gedächtnis gespeichert ist. Wörter werden also in einem Bildgedächtnis gespeichert, in dem sich folglich auch falsche Schreibweisen eines Wortes einprägen können.

Man könnte sich jetzt also denken: Gut, dieser Reichen hat das eben so gedacht, da wird sich aber nicht in Lehrpläne integrieren. Überraschung! Die Methode wird in einigen Schulen gelehrt. Denn sie ist Bestandteil des sogenannten Werkstattunterrichts, der sich in den 70ern und den Folgejahrzehnten entwickelte und mehr Projektarbeit und Schülerpartizipation ins Klassenzimmer brachte.

Zweiter Frühling für die “Rechtschraipkaterstrofe”

Es zeigen sich gravierende Folgen dieser Methode: Einer bis jetzt nur teilweise veröffentlichten Studie der Universität Duisburg-Essen zufolge sind die Auswirkungen nun schon in der Generation der angehenden Grundschullehrer nachzuweisen. Jeder fünfte von fast 3000 angehenden Lehrern wurde als stark oder sehr stark föderbedürftig im Bezug auf Orthographie, Grammatik und Leseverstehen eingestuft.

Da kann man gar nicht böse sein, wenn einige Medien wieder den viel geliebten Begriff der „Rechtschraipkaterstrofe“ aufwärmen. Oder ist das eher viel Lärm um nichts?

Quellen:
Reichen, Jürgen et al. (1988). Lesen durch Schreiben. Wie Kinder selbstgesteuert lesen lernen. Heft 1.3. Auflage. Hamburg: Heinevetter Verlag.
spiegel.de

Bild: Reichen, Jürgen et al. (1988). Lesen durch Schreiben. Wie Kinder selbstgesteuert lesen lernen. Heft 1.3. Auflage. Hamburg: Heinevetter Verlag.

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